Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Dieser Aktionstag soll die Belange von Menschen mit Behinderungen ins Bewusstsein rufen. Seit dem Jahr 2009 ist die UN-Behinderten-Rechtskonvention in Deutschland in Kraft. Grundlegend für sie ist der Gedanke der Inklusion: Menschen mit Behinderung gehören von Anfang an mitten in die Gesellschaft. Sie stellt klar, dass Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein Menschenrecht ist. Doch wie kann beispielsweise ein inklusives Lernumfeld am besten ausgestaltet werden?
Mit zentralen Fragen wie dieser beschäftigt sich bei der LEBENSHILFE Bremervörde/Zeven das Team der staatlich anerkannten Tagesbildungsstätte Helga-Leinung-Schule (HLS) um Leiterin Sylvia Mehrkens-Bartsch. Die Tagesbildungsstätte nahm vor mehr als 50 Jahren in Selsingen ihren Betrieb auf. Sie ist eine im niedersächsischen Schulgesetz verankerte Einrichtung, in der Schüler:innen mit einem Förderbedarf im Bereich Geistige Entwicklung ihre Schulpflicht ableisten. Grundlage für die Unterrichtsinhalte ist das niedersächsische Kerncurriculum für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen stellt Sylvia Mehrkens-Bartsch die HLS genauer vor und berichtet über aktuelle Entwicklungen im Bereich inklusiver Bildungsangebote.
Warum haben Sie sich für die Arbeit bei der Lebenshilfe Bremervörde/Zeven und konkret für die Leitung der Tagesbildungsstätte Helga-Leinung-Schule (HLS) entschieden?
In meiner vorherigen Tätigkeit habe ich viele Eindrücken zu den Angeboten der Eingliederungshilfe für Kinder mit einer geistigen Behinderung gewinnen können. Die Arbeit der HLS ist mir dabei sehr positiv aufgefallen. Ich fand das Kooperationsmodell besonders gut, das eine Begegnung von Kindern mit und ohne Behinderung ermöglicht. Man konnte sofort sehen, wie individuell und dicht am Kind die Klassenteams arbeiten. Daher habe ich mich sehr gezielt für diese Position entschieden. Ich wollte die HLS weiterführen und mitgestalten.
Wie ist die HLS aufgebaut und was für ein Konzept hat sie?
Unser Ziel ist es, so individuell wie möglich auf die Schüler:innen einzugehen und ein Umfeld für sie zu gestalten, in dem vielfältige Lernerfahrungen ermöglicht werden. Da die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen ganz verschieden sind, haben wir unterschiedliche pädagogische Konzepte: Die meisten unserer 15 Klassen befinden sich in angemieteten Räumen in allgemeinbildenden Schulen. An diesen Kooperations-Standorten findet Unterricht und soziales Miteinander sowohl in den eigenen Klassen als auch mit Partner-Klassen oder auf dem Schulhof statt. So kann gemeinsam gelernt werden und gleichzeitig ist ein Rückzug in den eigenen Klassenraum möglich, wenn dies nötig ist.
In der Rosenstraße in Selsingen haben wir einen Standort mit zwei Klassen, die nach dem Montessori-Konzept arbeiten. Hier wird viel in Freiarbeit und mit besonderen Materialien gearbeitet, so dass die Lerninhalte im wahrsten Sinne „begriffen“ werden können.
Ebenfalls zwei Klassen werden am Standort „Alte Straße“ in Selsingen beschult. Der Schwerpunkt liegt dort auf Schüler:innen aus dem Autismus-Spektrum und mit komplexeren Beeinträchtigungen. Das Umfeld ist reizarm gestaltet und das Lernsetting sowie die Methoden sind sehr stark strukturiert.
In den Abschluss-Stufen werden die Jugendlichen ab der 10 Klasse unterrichtet. Hier gibt es nicht mehr die klassischen Schulfächer, sondern drei Bildungsbereiche, die die Schüler:innen auf ein möglichst eigenständiges Leben, auch hinsichtlich verschiedener Wohn- und Arbeitsformen, vorbereiten.
Wie sieht der Schulalltag der Schüler:innen sowie der Arbeitsalltag von Ihnen und Ihren Kolleg:innen aus? Vor welchen Herausforderungen steht das Team?
Die Schüler:innen werden morgens mit dem Fahrdienst zu den Schulstandorten befördert. Dort gestalten die Klassenteams den Schulalltag. Je nach Schülerschaft können sich die Abläufe unterscheiden. Die Unterrichtsphasen wechseln sich mit Ruhe- und Pausenzeiten ab. Nach dem gemeinsamen Mittagessen in der Klasse oder Mensa folgen weitere Unterrichtseinheiten oder eine Betreuungszeit und dann werden die Schüler:innen wieder abgeholt.
Das Kollegium nutzt den Nachmittag, um Unterricht zu planen und auch für Organisatorisches, wie Dienstbesprechungen, Förderplanung, Elternarbeit oder Dokumentation. Im Schulleitungsbüro laufen viele Stränge zusammen. Ich bin Ansprechpartnerin für unser HLS-Team, die Elternschaft, Kooperations-Schulen und Behörden. Außerdem bin ich als Leitung des Bereichs „Bildung, Förderung und Freizeit“ für die Autismus-Ambulanz, die Logopädische Praxis und den Assistenz- und Beratungsdienst MOBILE zuständig. Die Anliegen sind ganz unterschiedlich, wodurch meine Tätigkeit sehr abwechslungsreich ist. Hinsichtlich der pädagogischen Arbeit beschäftigt uns die Veränderung der Bedarfe unserer Schülerschaft. Diese werden zunehmend komplexer.
Was halten Sie von der Einrichtungsform Tagesbildungsstätte? Was macht sie Ihrer Meinung nach besonders? Welchen Anpassungsbedarf gibt es?
Ich halte die Tagesbildungsstätte für eine wichtige Ergänzung der Schullandschaft. Unser Arbeitsalltag zeigt, wie unterschiedlich die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen sind. Es ist daher aus meiner Sicht sehr wichtig, unterschiedliche Angebote für die Vielfalt der Kinder vorzuhalten. Wir können aufgrund unserer besonderen Struktur oft sehr individuell auf diese Bedarfe eingehen. Hier ist unser multiprofessionelles Team hilfreich. In unseren Klassenteams arbeiten Heil-, Sozial- oder Sonderpädagog:innen, Erzieher:innen und Heilerziehungspflegende, aber auch Gesundheits- und Krankenpfleger:innen und Quereinsteiger:innen. Diese Klassenteams von jeweils mindestens drei Mitarbeitenden gestalten gemeinsam die Förderungen für die Schüler:innen. Zudem gibt es ein Therapeut:innen-Team (Logopädie, Ergo-, Physio- und Autismus-Therapie), das Therapieeinheiten während der Unterrichtszeit anbietet und die Klassenteams beratend unterstützt.
So findet, neben den schulischen Strukturen und der Unterrichtung der klassischen Unterrichtsfächer, fortlaufend die personale Bildung in verschiedenen Lebensbereichen statt, wie beispielsweise Kommunikation, Motorik, Sozialverhalten oder Wahrnehmung.
Was sind Ihre Zukunftspläne? Welche Themen möchte Sie angehen?
Für die Tagesbildungsstätten steht ein Weiterentwicklungs-Prozess an. Hierbei geht es in erster Linie darum, dass die Arbeit der Tagesbildungsstätten nicht mehr ausschließlich der Eingliederungshilfe zugeordnet wird, sondern auch unsere Bildungs- und Lehrtätigkeit anerkannt wird. Mein Ziel ist es, in diesem Prozess die Stärken und Besonderheiten unserer Einrichtung zu erhalten, um für die Kinder und Jugendlichen weiterhin ein vielfältiges sowie individuelles Angebot bereitzuhalten.
Mir ist wichtig, die HLS-Mitarbeitenden so zu unterstützen, dass sie die aktuellen und zukünftigen herausfordernden Anforderungen gut bewältigen können und die Freude und das Engagement für die Arbeit behalten. Nur so schaffen wir es, unser Angebot stetig weiterzuentwickeln, damit wir möglichst jeder:jedem Schüler:in gerecht werden können.